Die alten Mauer-Gesellschaften brauchen unseren Schutz

Wo es noch alte Gebäude und Gemäuer gibt, sind sie oft noch zu finden: die Überlebenskünstler Mauerpflanzen. Ursprünglich an Fels- und Geröllstandorte angepasst, haben diese Spezialisten auch von Menschen geschaffenen Lebensräume erobert: die Mauerritzen von Gebäuden, Stadtmauern, Einfriedungen und Brücken.

Dabei verläuft die Besiedlung einer Mauer nach einem festgelegten Schema. Zunächst stellen sich die ausgesprochen genügsamen Algen, Moose und Flechten ein. Nachdem sich in den Fugen etwas Humus in den Ritzen gesammelt hat, können die ersten Farne und Blütenpflanzen wurzeln. Mit zunehmendem Nährstoffangebot und Fugengröße kommen auch Pflanzen hinzu, die auf mehr Nährstoffe brauchen.

Faszinierend ist die Fähigkeit der Natur, sich an solche entbehrungsreiche Standorte anzupassen: Die meisten Mauergewächse sind wahre Durst- und Hungerkünstler, die mit einem Minimum an Wasser und Nährboden überleben können, denn die Mauerfugen bieten nur kleinsten Wurzelraum und fast keine Wasserspeichermöglichkeit. An der gleichen Mauer gibt es nebeneinander zahlreiche verschiedene Kleinklimazonen, je nach Licht-, Temperatur- und Niederschlagsverhältnis, Fugentiefe und Mauertyp. Während sie auf der Schattenseite dabei mit einem Minimum an Licht auskommen müssen, heizt sich auf der Sonnenseite die Mauer stark auf. Die Trockenheit und die Temperaturschwankungen sind hier extrem. So ist es nicht verwunderlich, dass viele der dort vorkommenden Mauerpflanzen Einwanderer sind, die eigentlich südlich der Alpen leben. Typische Mauerpflanzen auf der feuchten, schattigen Seite sind der Gelbe Lerchensporn und verschiedene Farne. Im Halbschatten wächst die Mauerraute und der braunstielige Streifenfarn, in der Sonne das Zymbelkraut und das Schöllkraut.

Um sich an dem Standort auch vermehren können, brauchten die Mauerpflanzen spezielle Anpassungen, damit der Samen und die Früchte wieder in Mauerritzen gelangen können. So wachsen die Fruchtstiele des Zymbelkrautes in dunkle Spalten, wo die Samen ausgestreut werden. Das Schöllkraut bildet dagegen Samen mit Ölkörpern, die von Ameisen als Nahrungsvorrat ins Nest getragen werden, wo sie dann keimen.

Doch auf alten Mauern leben nicht nur zahlreiche Pflanzenarten, sondern ebenso viele Tierarten. Diese sind noch stärker als die Pflanzen auf die Lückenräume angewiesen. Die Blüten und Blätter bieten Nahrung für Käfer und Schmetterlinge, doch die meisten Tiere leben räuberisch. Es gibt hier Ameisen, Spinnen und Weberknechte, Asseln, Laufkäferarten, Nackt- und Weinbergschnecken, viele streng geschützte Wildbienen, Falten- und Grabwespenarten. Manchmal bewohnen sogar Eidechsen, Frösche und Kröten, Spitzmäuse, Marder und Igel die Mauern.

Erst in 100-500 Jahre alten Mauern haben sich die Mauergesellschaften optimal ausgebildet und leben in perfekter Symbiose miteinander. Solche artenreiche Gesellschaften zählen zu den schützenswertesten Biotopen in Siedlungsräumen. Sie sind kostbare Natur- und Denkmalschutzobjekte.

Alte Ruinen können düster wirken. Romantisch erscheinen sie, wenn aus den verwitterten Fugen Mauerpflanzen grünen und sogar zart blühen. Doch leider gibt es nur noch wenige alte Mauern, deren Wert geschätzt wird. Entweder werden sie ganz abgerissen oder renoviert. Aus übertriebenem Sauberkeitssinn oder Angst vor negativen Folgen werden die Pflanzen ausgerissen. Dabei sind die kleinen Mauerpflanzen viel zu zart, um Schaden an der Mauer anzurichten.

Wird die Wand mit Zementmörtel verfugt, ist die Zerstörung der alten Mauer-Lebensgemeinschaft endgültig. Aber auch auf frischem Kalkmörtel können selbst die genügsamen Mauerpflanzen die ersten Jahre nicht wieder wachsen. Ergebnis ist eine kahle, steril wirkende Mauer, geopfert wurde eine Mauer, die durch ihr Alter und den Bewuchs noch eine einzigartige Ausstrahlung hatte. Eine alte Backsteinmauer, lila und gelb mit Zimbelkraut und Lerchensporn geschmückt und von Bienen umschwirrt, ist ein Anblick, den man nicht so leicht vergisst! Eine Einheitsmauer hinterlässt dagegen selten einen bleibenden Eindruck.

In Jüchen gibt es noch alte Backsteinmauern, einige wenige mit Mauerpflanzen. Meist sind es Friedhofsmauern, Garten- und Hofeinfriedungen. Meine Bitte an die Besitzer ist, diese wertvollen und über lange Zeit entstandenen Biotope nicht überstürzt bei einer Säuberungsaktion zu vernichten, denn für eine Wiederherstellung dieser seltenen, romantischen Schmuckstücke brauchen die Mauerpflanzen Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte.

 



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